Lotti Huber wurde am 16. Oktober 1912 als Charlotte Goldmann und
Tochter eines Textilkaufmanns in Kiel geboren. Aufgewachsen in einem großbürgerlichen jüdischen
Elternhaus, verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend gemeinsam mit ihrem
zwei Jahre älteren Bruder Walter sowie dem drei Jahre jüngeren Bruder
Karl. Schon als junges Mädchen entwickelte sie eine Leidenschaft für
das Theater, fühlte sich vor allem zum Tanz hingezogen und bewunderte
Stars wie Isadora Duncan1)
(1877 1927) und Mary Wigman1)
(1886 1973), die als Wegbereiterinnen des modernen Ausdruckstanzes
galten. Sie besucht in Kiel das Oberlyzeum, welches sie mit dem Abitur
abschloss, ging dann Anfang der 1930er Jahre mit ihrem Freund Hillert Lueken,
dem Sohn des ehemaligen Kieler Oberbürgermeisters Emil Lueken,
nach Berlin und begann eine Ausbildung in Ausdruckstanz. 1937 wurde ihr
Lebensgefährte Lueken denunziert, von den Nazis wegen
"Rassenschande" verhaftet und wenig später im Gefängnis erschossen.
Die junge Lotti deportierte man zunächst in das Konzentrationslager im
niedersächsischen Mohringen, nach dessen Schließung in das
Frauenkonzentrationslager Lichtenburg, im Osten des heutigen Landes
Sachsen-Anhalt. Nur mit Hilfe ihres Bruders Karl konnte die junge Frau
Ende 1938 von einer jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation freigekauft
werden, emigrierte über die Schweiz und Italien nach Palästina.
Das Foto wurde mir freundlicherweise von der
Fotografin
Virginia Shue
(Hamburg) zur Verfügung gestellt.
Das Copyright liegt bei Virginia Shue.
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Am Konservatorium in Jerusalem nahm sie Ihre Studien in Tanz und Pantomime
wieder auf, verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit kleineren Auftritten in Nachtclubs
und beim Kabarett. Während dieser Zeit lernte sie den britischen Major
Alec Kingaby kennen und heiratete ihn, zog mit ihrem Mann durch den Nahen
Osten, arbeitete auch dort in Nachtlokalen und Varietés als Tänzerin; in Nikosia
(Zypern) eröffneten beide ein Hotel. Doch der Ehe war kein Glück beschieden
und endete mit der Scheidung, Lotti verschlug es in den Norden von Zypern, wo
sie zeitweilig ein Restaurant betrieb. Mit ihrem zweiten Ehemann, dem britischen
Colonel Norman Huber (1910 1971) ging sie 1945 nach London und lebte dort
bis Mitte der 1960er Jahre. Als ihr Mann 1965 in die Bundesrepublik versetzt
wurde und eine Tätigkeit in Berlin aufnahm, betrat Lotti Huber erstmals
wieder deutschen Boden. In den nachfolgenden Jahren leitete sie unter anderem
eine Mannequin-Schule und erteilte Tanzunterricht. Als Norman Huber 1971 verstarb, hielt
sich die
inzwischen knapp 60-Jährige mit Gelegenheitsjobs über Wasser, so übersetzte sie
Liebesromane aus dem Englischen, eröffnete in ihrer Wohnung eine Benimmschule,
verkaufte in Warenhäusern Kräuterlikör oder arbeitete als Filmstatistin.2)
Lotti Huber, 1992 fotografiert von Klaus
Morgenstern
Quelle: Deutsche
Fotothek, (file: df_mo_0000636_001)
© SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/Klaus Morgenstern;
Urheber: Klaus Morgenstern; Datierung: 24.11.1992
Quelle:
www.deutschefotothek.de; Genehmigung zur Veröffentlichung:
30.03.2017 |
Eine erste kleinere, über Statistenauftritte hinausgehende Filmrolle übernahm
sie als Tänzerin in David Hemmings' Streifen "Schöner Gigolo, armer Gigolo"1) (1978),
es folgten Auftritte in Ulrich Schamonis Film "Das Traumhaus"1) (1979) und
Lothar Lamberts Subkultur-Klassiker "Die Alptraumfrau" (1981).
Mit "Unsere Leichen leben noch"3) (1981)
erfolgte eine erste Zusammenarbeit mit dem Regisseur Rosa von Praunheim1),
der als der öffentliche Wegbereiter und einer der Mitbegründer
der politischen Schwulen- und Lesbenbewegung in der Bundesrepublik
Deutschland gilt. Mit ihm drehte sie auch "Horror vacui Die Angst vor der Leere"4) (1984),
nach Gusztáv Hámos' experimentellen Science-fiction-Film "Der Unbesiegbare" (1985; u.a. mit Udo Kier)
und dem Kinderfilm-Klassiker von Arend Agthe "Küken für Kairo" (1985)
schrieb sie gemeinsam mit Regisseur Rosa von Praunheim sowie Hannelene Limpach
und Marianne Enzensberger
das Drehbuch zu Praunheims Film "Anita Tänze des Lasters"1) (1988),
stand mit der Hauptrolle der Frau Kutowski bzw. Anita Berber vor der Kamera. Ulrich Behrens schrieb
unter anderem bei "Filmzentrale":
"Anita Tänze des Lasters" spielt mit der Verwechslung,
Identifizierung und der Distanzierung der Grauen folgerichtig auch in
Schwarz-Weiß, vor allem Grau gefilmten Gegenwart gegen die bunte,
lasterhafte Vergangenheit. Neben einer, die sich für Rosa Luxemburg hält
(Eva-Maria Kurz), einem religiös-fanatischen Patienten (Friedrich Steinhauer)
und etlichen anderen gibt Frau Kutowski/Berber jedoch nicht etwa
auf. Nein, sie reimt, schreit, lacht, und dreht den Ärzten und Psychologen,
Schwestern und Pflegern das Wort im Mund herum, damit es passt zu ihrer
Situation. Und uns passt das auch vorzüglich. Letztlich ist es völlig
gleichgültig, ob sie nun die Kutowski ist oder die Berber oder die
Huber. Sie lebt als Anita. Und Rosa von Praunheim wechselt zwischen dem eintönigen
Grau der psychiatrischen Gegenwart und dem farbenprallen erinnerten
Vergangenen der 1920er Jahre. "Anita Tänze des Lasters" ist
auch die Lebensgeschichte der Anita Berber, die 1916, mitten im Ersten
Weltkrieg, ihre kurze Karriere als femme fatale und Tänzerin begann. (
)
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Lotti Huber in Aktion
Alle Fotos
entstanden am 20.11.1985 bei einer Anti-Aids-Veranstaltung im Audimax
der Hamburger Uni
Fotos freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Fotografin
Virginia Shue
(Hamburg);
das Copyright liegt bei Virginia Shue. |
Über Nacht war Lotti Huber mit diesem Film im hohen Alter zum Star geworden,
wurde als "Grande Dame der Subkultur" gefeiert und hatte vor allem
in der schwul-lesbischen Szene eine große Fangemeinde. Es folgte Norbert Kückelmanns
komödiantischer Krimi "Schweinegeld Ein Märchen der Gebrüder Nimm"5) (1989; mit Armin Mueller-Stahl)
sowie von Praunheims semidokumentarischer
Portrait-Film "Affengeil. Eine Reise durch Lottis Leben"3) (1990),
weitere Streifen mit Lotti Huber waren unter anderem Siegfried Kühns "Die
Lügnerin"1) (1992) mit Katharina Thalbach in der Hauptrolle,
von Praunheims "Neurosia 50 Jahre pervers" (1995) und
der TV-Film "Helden haben's schwer" (1996);
letztmalig agierte sie neben Marita Marschall und Henry Hübchen in dem
heiteren Fernsehfilm "Liebling, vergiß die Socken nicht!"6) (1998).
Regelmäßig war Lotti Huber auch in der von Holger Weinert1) moderierten HR-Sendung "Holgers Waschsalon"
auf dem Bildschirm präsent.
In ihren letzten Lebensjahren avancierte Lotti Huber zu einer
vielbeschäftigten Entertainerin und Sängerin, die in zahllosen Talkshows
das Publikum mit Geschichten aus ihrem aufregenden Leben unterhielt und sich
grandios als Selbstdarstellerin vermarktete. Darüber hinaus ging Lotti Huber
mit Soloprogrammen auf Tournee, in denen sie aus ihrem bewegten Leben erzählte, kombiniert mit
Chanson- und Tanzeinlagen. Wenn die fast 80-Jährige das Mikrofon ergreift
und von wilden Träumen und Trieben singt, der Tristesse der zwanghaften
Zweisamkeit den fröhlich begangenen Seitensprung gegenüberstellt,
wenn sie mit rollendem Ufa-Rrr die Errrotik beschwört, spricht sie,
bei Frauen zumal, verdeckte Sehnsüchte an: daß es jenseits von Friedhofsbesuch
und Butterfahrt im Alter etwas anderes geben kann Spaß.,
schreibt Barbara Supp unter anderem in dem SPIEGEL-Artikel "Schöne Männer, schwüle Nächte" (DER SPIEGEL Nr. 49/1990).
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Mit ihren Auftritten erregte das nur 1,50 Meter große Energiebündel stets
Aufsehen, "Wo die Huber auftrat, fiel sie schon durch ihre Erscheinung auf:
Roben in Tüll und Taft, Kostüme mit Perlen, Strass und Pailletten und dazu jede Menge Schmuck an
Fingern, Ohren und um den Hals. Und erst die Hüte! Kunstvoll geformt wie ein Schwan oder
eine Kappe mit überlangen federbesetzten Antennen.
kann man unter anderen in "DER
SPIEGEL" am 22.2.2000 anlässlich der Versteigerung von Lotti Hubers
Nachlass in der Berliner "Bar jeder Vernunft" lesen.
Das Foto wurde mir freundlicherweise von der
Fotografin
Virginia Shue
(Hamburg) zur Verfügung gestellt.
Das Copyright liegt bei Virginia Shue.
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1990 veröffentlichte Lotti Huber ihre Erinnerungen unter dem Titel "Diese Zitrone hat noch viel Saft.
Ein Leben", ein Buch, das zum Bestseller wurde und 2003 auch als
Hörbuch gelesen von Hannelore Hoger auf den Markt kam. Ein Jahr später
publizierte sie "Jede Zeit ist meine Zeit. Gespräche" (1991) und
nach "Gedacht. Gedichtet" (1995) erschien kurz nach ihrem Tod ein
weiteres autobiographisches Werk" mit dem Titel "Drei Schritt vor und kein Zurück! Bargeflüster" (1998)
mit vielen Geschichten aus ihrem turbulenten Leben, garniert mit
Lebensweisheiten.
Lotti Huber, die zuletzt in einer Gründerzeit-Wohnung in Berlin-Charlottenburg
lebte, starb am 31. Mai 1998 im Alter von 85 Jahren überraschend an Herzversagen
bzw. an den Folgen einer Lungenentzündung; die letzte Ruhe fand die avantgardistische Künstlerin
nach eigenen Wünschen auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße in Berlin neben ihrem Mann Norman Huber
→ Foto der Grabstelle bei knerger.de.
Die Beisetzung geriet zu einer Hommage an die greise Diva und "Femme fatale",
unter den fast 500 Trauergästen waren Fans, Verwandte aus Israel sowie schrill gekleidete Szene-Größen
und Prominente aus dem Kulturleben. Die Feier wurde auf Wunsch der Verstorbenen nach
jüdischem Ritual abgehalten.7)
Ex-Kultursenator Volker Hassemer hielt die Trauerrede, sagte unter anderem
""Lotti Huber schien uns allen wüst, aber unverwüstlich
Sie war ein starkes Stück." (
)
"Berlin hatte das Glück, dass sie ihre letzten Jahrzehnte dieser Stadt
schenkte."
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