Der russische Stummfilmstar Iwan Iljitsch Mosschuchin (in Lateinschrift auch
Mosjukin, Mozzhukhin
oder Mosjoukine) wurde nach dem gregorianischen Kalender am 8. Oktober 1889
in der kleinen Stadt Pensa1)
als Sohn eines Gutverwalters geboren; einige Quellen geben auch als
Geburtsjahr 1887 bzw. 1890 an. Auf Wunsch seines Vaters begann er nach
dem Gymnasial-Abschluss zunächst ein Jura-Studium in Kiew, doch seine
Leidenschaft für die Schauspielerei bzw. das Theater war stärker. Mosschuchin sammelte erste Bühnenerfahrungen am Theater in Kiew,
studierte noch halbherzig zwei weitere Semester Jura in Moskau, um
sich dann endgültig für "die Bretter, die die Welt
bedeuten" zu entscheiden.
Nach ersten Engagements an Provinztheatern, wechselte er an das Moskauer
"Vvedensk"-Volkstheater, weitere Stationen
wurden das "Korsch-Theater" und das "Freie Theater".
Ab 1911 trat Mosschuchin im russischen Stummfilm in
Erscheinung, zu einer seiner früh beachteten Rollen zählt die Figur
des Admirals Kornilov in der Hommage an den Krimkrieg der 1850er Jahre
"Die Verteidigung von Sewastopol" (1911, Oborona
Sevastopolya) sowie die des Geigers Truchatschewskij in der
Tolstoi-Adaption "Die Kreuzersonate" (1911,
Krejzerova Sonata). Rasch avancierte der gut aussehende Mann zunächst mit
komischen Figuren, später mit Charakterrollen zum ersten Filmstar des
Zarenreiches, überzeugte vor allem durch sein distanziert elitäres Spiel.
Allein zwischen 1915 und 1919 entstanden rund 40 Filme, oftmals
Literatur-Adaptionen russischer Weltklassiker. In den 1910er Jahren arbeitete er mit allen wichtigen russischen Regisseuren
zusammen, so unter anderem mit Pjotr Tschardynin,
Jakow Protasanow1) (Yakov Protazanov),
Alexander Wolkow1)
(Alexandre Volkoff) oder Jewgeni Bauer1) (Jevgenij Bauer).
Iwan Mosjukin in den späten 1920er Jahren
Urheber: Albert Witzel (1879 1929; "Witzel Studios", Los Angeles)
für "Universal-Matador"; Ross-Karte Nr. 3179/2 (ca. 1928/29)
Quelle: www.cyranos.ch;
Angaben zur Lizenz siehe hier
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Seit 1914 bei der Filmgesellschaft " Hanzhonkov & Co." unter
Vertrag, stand er meist für Regisseur Jewgeni Bauer vor der Kamera und
spielte Hauptrollen in Streifen wie "Das Leben im Tod" (1914,
Zizn' v smerti): Es ist die
phantastische Geschichte einer Amour fou in der Tradition der obsessiven Helden Edgar Allen Poes. Dr. René
(Mosjukin) tötet seine über alles geliebte Frau, um ihre berückende Schönheit für immer zu bewahren.
Ihren einbalsamierten Leichnam bewahrt er in einer Krypta auf. In dieser Rolle des
bis zum Wahnsinn Liebenden fließen zum ersten Mal die berühmt gewordenen
"Mosjukinschen Tränen". Dieses Ausdrucksmittel kultiviert der in den folgenden Jahren zum größten
russischen Stummfilmstar avancierende Akteur und wird es immer wieder virtuos einsetzen. Er verkörpert damit
ein Männerbild, zu dessen stattlicher und eleganter Virilität sich emotionale Tiefe und Weichheit gesellen.2)
Aus der Vielzahl seiner beachtlichen Darstellungen jener Jahre ist unter der
Regie von Jakow Protasanow der deutsche Offizier und besessenen Spieler Herman
in "Pique Dame" (1916, Pikowaja dama) zu nennen sowie die Titelfigur in der Tolstoi-Verfilmung
"Pater
Sergius"1) (1918, Otez Sergei).
Erzählt wird die Geschichte des Prinzen bzw. adeligen
Offiziers Kasatsky (Iwan Mosschuchin), der ins Kloster geht und Mönch wird, nachdem seine Verlobte,
die Gräfin Maria Korotkova (V. Dzheneyeva),
eine Affäre mit dem Zaren begonnen hat.
"Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Yakov Protazanov wird die produktivste seines Lebens."
notiert www.difarchiv.deutsches-filminstitut.de.
"Unter Protazanov spezialisiert er sich auf jene nervösen und dämonischen Charaktere, jene Figuren mit
heimlichen Leidenschaften und dem Hang zum pathologischen Wahn, die, hin und her gerissen zwischen Pflichterfüllung
und Emotion, für das vorrevolutionäre russische Kino so charakteristisch sind. (
) Die romantischen,
nicht selten vom Teufel besessenen oder verführten Figuren in den
Literaturadaptionen dieser Jahre begründen Mosjukins Image als ambivalenter Typus. Erzählungen
und Romane Puschkins, Tolstojs und Dostojewskis bestimmen dieses literarisch nobilitierte Kino."2)
In seinem Buch "Wie ich Nikolai Stavrogin spielte", das kurz nach dem gleichnamigen, von Protazanov
inszenierten Film veröffentlicht wurde, beschreibt Mosjukin 1915 seine schauspielerische Arbeit:
"Die slawische Seele neigt zum Mystischen und zu unkontrollierten Temperamentsausbrüchen
und stimmt darin immer neu ihr Lied von Hoffnung und Verzweiflung an. Solche komplizierten Dramen der Neurasthenie, die jäh
in Grausamkeit umschlagen können, so schwer von unterdrückter Leidenschaft und mystisch, eignen sich ideal für eine ins
Sadistische spielende Sensibilität."2)
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Aufgrund der politischen Wirren bzw. Unruhen nach der russischen
Oktoberrevolution verließ Mosschuchin wie viele seiner Künstlerkollegen Sowjetrussland,
emigrierte über Jalta (1918) und Konstantinopel (Türkei) Ende 1919
nach Frankreich und lebte zunächst in Marseille, dann in Paris.
Dort konnte er als
Filmschauspieler auch durch seinen "für die Großaufnahmen so charakteristischen, durchdringenden
oder abgründigen Blick"2)
an seinen Star-Ruhm anknüpfen und nannte sich nun "Ivan Mosjoukine". Mit ganz auf den Protagonisten Mosschuchin
zugeschnittenen Produktionen entstanden Kassenschlager wie die Biografie
"Verlöschende Fackel" (1922, Kean ou Disordre et Genie";
Regie: Alexandre Volkoff) nach dem Bühnenstück von
Alexandre Dumas der Ältere über den Shakespeare-Darsteller Edmund Kean1) (1787 1833).
"Die streng frontal fotografierte Sterbeszene am Ende indes ist Ivan Mosjukins Meisterstück:
in unerhörter Langsamkeit und winzigen Bewegungen nimmt ein Gesicht Abschied von der Welt,
und der Film bietet das ganze Arsenal von Vorhang, Rahmung und Kreisblende auf, um zum Ende zu kommen.
Film wird zur Gruft, die Blende schließt unerbittlicher als jeder Vorhang. Keans Tod
ist wiederum nur ein letzter Auftritt und alles Theater ein Schluß, den Greenaway hätte diktieren können."2)
Mit der in Deutschland 1924 mit Jugendverbot belegten melodramatischen
Komödie "Ehegeschichten" (1923, Le brasier ardent)
lieferte Mosschuchin seine einzige Regie-Arbeit ab und mimte einen
Detektiv, der nur als "Z" bekannt war und von einem ältlichen
Ehemann (Nicolas Koline) angeheuert wird, um die amourösen Abenteuer seiner
schönen jungen Frau (Nathalie Lissenko) aufzudecken.
Iwan Mosjukin auf einer Fotografie des russisch-amerikanischen
Kameramanns
und Fotografen Jack Freulich (1880 – 1936; → imdb.com)
Ross-Karte Nr. 3779/1 (ca. 1928/29)
Quelle: filmstarpostcards.blogspot.de;
Angaben zur Lizenz siehe hier
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Nach Hauptrollen in Volkoffs Tragikomödie
"Schatten, die vorüberziehen" (1924, Les ombres qui passent"),
Jean Epstein romantischem, im Orient angesiedelten Abenteuer "Le lion des Mogols" (1924)
sowie "Die zwei Leben des Mathias Pascal"3) (1926,
Feu Mathias Pascal → www.arte.tv,
Wikipedia), in Szene gesetzt
von dem für seine avantgardistischen Filme bekannt gewordenen Marcel L'Herbier
nach einem Roman von Luigi Pirandello, machte Mosschuchin als
"Michel Strogoff Der Kurier des Zaren" (1926,
Michel Strogoff; Regie/Drehbuch: Viktor Tourjansky) Furore und mimte in dieser
frühen Jules Verne-Adaption an der Seite von Nathalie Kovanko als junger
Nadia Fedor einen eindrucksvoll-charismatischen Titelhelden. Der Streifen war 168 Minuten
lang und somit für
Stummfilme eine ungewöhnliche Inszenierung. Die Außenaufnahmen des Films wurden mit einem riesigen Aufwand in
Lettland gedreht. Zu den Massenszenen wurden 4.000 Soldaten und Kavalleristen der lettischen
Armee hinzugezogen, die als Tataren oder Russen die Schlachtszenen, die
Reiterangriffe oder die Belagerungsszenen gestalteten.
Als Sibirische Steppe mussten die flächigen Weiten vor Riga
herhalten und die typischen russischen Holzbauten waren in Lettland
als an vielen Stellen ebenfalls vorhanden. Dadurch erhielt der Film eine
durchgehende Authentizität in der bildhaften Umsetzung der szenisch notwendigen Umgebung.
(Quelle: www.j-verne.de mit weiteren Info zu dem Film)
Wenig später folgte eine Rolle, die der Russe ebenfalls überzeugend bzw. mit
humorvoller Leichtigkeit zu gestalten wusste: In Alexandre Volkoffs
epischen Biografie
"Casanova"1) (1927) schlüpfte Mosschuchin in das Kostüm des
legendären, venezianischen Frauenhelden Giacomo Casanova und spielte an der
Seite von Stars wie der Französin Suzanne Bianchetti1)
(Katharina die Große), der Kosmopolitin Diana Karenne4)
(Maria, Herzogin von Lardi) oder der Österreicherin Jenny Jugo4)
(Thérèse).
Iwan Mosjukin auf einer Fotografie des russisch-amerikanischen
Kameramanns
und Fotografen Jack Freulich (1880 – 1936; → imdb.com)
Ross-Karte Nr. 1265/1 (ca. 1927/28)
Quelle: filmstarpostcards.blogspot.de;
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"Die Rolle des Casanova war maßgeschneidert für Ivan Mosjoukine (
) Er spielt
Casanova als einen Abenteurer à la Douglas Fairbanks, nur mit mehr Esprit,
Ironie und kühler erotischer Ausstrahlung." notiert Richard Abel in
"French Cinema: The First Wave 19151929". Auf dem Höhepunkt seiner schauspielerischen Karriere wagte Mosschuchin von vielen
als russischer Rudolph Valentino gehandelt einen Ausflug nach Hollywood und drehte dort mit Regisseur Edward Sloman
bzw. Mary Philbin als Partnerin das Kriegs-Melodram "Hingabe" (1927, Surrender), welches
jedoch nicht sehr erfolgreich war. Enttäuscht kehrte er nach Europa zurück
und konnte stattdessen in deutschen Stummfilm-Produktionen bei der Berliner
"Greenbaum-Film GmbH" Erfolge feiern. Nach Gennaro Righellis Drama "Der Präsident" (1928, mit Suzy Vernon)
knüpfte er an sein Strogoff-Image an und
drehte die Abenteuer "Der geheime Kurier" (1928; Regie:
Gennaro Righelli) mit Lil Dagover sowie "Der Adjutant des Zaren"5) (1928; Regie: Vladimir Strizhevsky) mit Carmen Boni. In seinem letzten
Stummfilm "Manolescu"6) (1929; Regie: Viktor Tourjansky) lief Mosschuchin
noch einmal zur Hochform auf
und glänzte als der rumänische Spieler, Abenteurer und Meisterdieb Manolescu
bzw. "König der Hochstapler" neben Brigitte Helm, Heinrich George
und Dita Parlo.
Szene mit Rina de Liguoro als Corticelli und Iwan Mosschuchin als Casanova1)
in dem gleichnamigen Stummfilm1)
(1927) von Alexander Wolkoff1)
Quelle: Deutsche
Fotothek, (file: df_pos-2010-a_0000130)
aus
"Vom Werden deutscher Filmkunst/1. Teil: Der stumme Film"
von Dr. Oskar Kalbus
(Berlin 1935, S. 62) bzw. Ross-Verlag 1927
© SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/Unbekannter Fotograf
Quelle: www.deutschefotothek.de;
Genehmigung zur Veröffentlichung: 30.03.2017
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Sein nächster Film bzw. die Rolle des Heerführer und Freiheitskämpfers
Hadschi Murat in dem Abenteuer "Der weiße Teufel"6) (1930;
Regie: Alexandre Volkoff) nach dem Roman "Hadschi Murat" von
Leo Tolstoi wurde bereits mit Tonverfahren realisiert. Nun zeigten sich für
den Schauspieler erste Sprachprobleme, da sein starker russischer Akzent beim Publikum
kaum Akzeptanz fand. Die Einführung des Tonfilms läßt den Stern des
exilrussischen Schauspielers sinken, der Körperschauspieler Mosjukin kann seine Form der Präsenz nicht mehr ausagieren,
sein Akzent schränkt die Besetzungsmöglichkeiten ein, erlaubt ihm nur Rollen anzunehmen,
in denen das Exotische seiner Sprache eine Bedeutung hat. Zugleich ebbt das Publikumsinteresse am
"Russenfilm" ab, Fremdheit und Exotik werden im Zeichen der
Re-Nationalisierung des Kinos zu Eigenschaften von Nebenfiguren. Und Mosjukin ist keine Figur für den
Bildrand. Sein markantes Profil paßt auch nicht zur Fotogenität, wie sie Hollywood in den dreißiger
Jahren verlangt. Der als französisch-deutsche Koproduktion in zwei Sprachfassungen gedrehte Legionärsfilm "Le Sergeant X"(1931, Regie: Vladimir Strijewskij)
deutet mit seinem engen dramaturgischen Schema vom verzichtenden Helden, dessen neue Ordnung der
formierte Männerbund wird, den Rückzug eines Stars an eine ungewöhnliche Position für den Darsteller
des strahlenden Casanova, der er noch vier Jahre vorher war.2)
Bis zu seinem frühen Tod wirkte Mosschuchin noch in einigen Tonfilm-Remakes seiner großen französischen Erfolge
mit, letztmalig trat er mit einem kleineren Part in Jacques de Baroncellis
Remake "Nitschewo" (1936, Nitchevo) aus dem Jahre 1926 auf der Leinwand in
Erscheinung. Der einst so strahlende Stummfilmstar, ein Virtuose der Stummfilmkunst und
einer der markantesten und nuanciertesten Schauspieler des europäischen Kinos2),
starb völlig verarmt am 18. Januar 1939
im Alter von nur 49 Jahren in einem Krankenhaus in Neuilly-sur-Seine
(Frankreich) an Tuberkulose. Die letzte Ruhe fand er auf dem
russischen Friedhof im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois; auf
dem dortigen Grabstein wird als Geburtsjahr 1887 angegeben → androom.home.xs4all.nl.
Mosschuchin, dem zahlreiche Liebesaffären nachgesagt wurden, hatte in erster Ehe
die mit ihm ebenfalls aus Russland emigrierte populäre
Stummfilm-Darstellerin Nathalie Lissenko1)
(auch: Natalya Lyssenko; 1886 1969) geheiratet, mit der er mehrfach (unter anderem bereits 1918 in "Otez Sergei")
vor der Kamera stand. Seine
zweite Ehefrau war die dänische Schauspielerin Agnes Petersen7) (Agnes Petersen-Mozzuchinowa; 1904 ?).
Der Mime "bezeichnete sich gerne als von Tscherkessen abstammend, was
sich nicht erhärten lässt. Der litauisch-französische Erfolgsschriftsteller der 1960/70er Jahre
Romain Gary1) bezeichnete
Mosschuchin zeitlebens als seinen Vater, was auf jeden Fall fabuliert ist, wie das meiste, was Gary
zu seiner Vita zum besten gab."8)
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