Die Schauspielerin Francesca Bertini gilt bis heute als eine der großen Diven des italienischen
Stummfilms und erlangte auch über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus
Berühmtheit und Anerkennung. Geboren am 11. April 1892 (nach anderen Quellen 5. Januar)
als Elena Seracìni Vitièllo in Florenz, verbrachte die Tochter der Schauspielerin
bzw. Theater-Komödiantin Adelaide Frataglioni und des Requisiteurs
Arturo Vitièllo ihre Kindheit in Neapel; dort hatte sie im Alter von erst 11 Jahren auch ihren ersten Bühnenauftritt.
Im Jahre 1904 ließ sich ihre
Familie in Rom nieder, wo das junge Mädchen weiterhin am Theater
Auftritte vorwiegend in neapolitanischen Komödien absolvierte. Bei dem noch in den Kinderschuhen steckenden Film
trat sie bereits 1907 in dem kurzen Streifen "La dea del mare" in
Erscheinung, stand dann ab 1910 regelmäßig vor der Kamera. Anfangs waren es
vornehmlich auf weniger als 15 Minuten Spieldauer gekürzte Verfilmungen klassischer Theaterstücke
oder Opern wie beispielsweise "Francesca di Rimini" (1910) nach Dantes "Die göttliche Komödie", Shakespeares
"Romeo e Giulietta" (1912, Romeo und Julia) oder Wagners
"Tristan e Isotta" (1912, Tristan und Isolde).
Einige aufwendig restaurierte, handkolorierte Shakespeare-Verfilmungen von Gerolamo Lo Savio oder auch Ugo Falena,
mit denen sie in den frühen 1910er Jahren eng zusammenarbeitete, sind
bis heute erhalten geblieben, so auch "Romeo e Giulietta" (1912, Romeo und Julia;
Regie: Ugo Falena) mit Gustavo Serena (1881 1970) und Francesca Bertini in
den Titelrollen. Die von Gerolamo Lo Savio inszenierten Bühnenadaptionen
"Re Lear" (1910; König Lear)
mit Ermete Novelli (1851 1919) in der Titelrolle und der Bertini als Cordelia
sowie "Il mercante di Venezia" (1911, Der Kaufmann von Venedig)
mit Bertini als Jessica und Ermete Novelli als Shylock wurden vom "Britischen
Filminstitut" (BFI) im Rahmen der DVD "Silent Shakespeare"
2004 veröffentlicht.
Gepriesen für ihre Schönheit und Eleganz, avancierte Francesca Bertini mit melodramatischen, von Baldassarre Negroni ganz auf seine
Hauptdarstellerin zugeschnittenen Streifen wie "Lagrime e sorrisi" (1912), "La maestrina" (1913)
oder "Histoire d'un pierrot" (1913, Die Geschichte eines Pierrot) zum unumstrittenen Star der
italienischen Stummfilm-Szene. Sie entwickelte sich zu einer markanten und starken Schauspielerpersönlichkeit mit oftmals
aggressiv-leidenschaftlicher, aber auch zurückhaltender Darstellung innerlich widersprüchlicher Frauenspersonen Bertini spielte
sie mit natürlicher Gestik.*) Gemeinsam mit Gustavo Serena schuf sie 1915
mit "Assunta Spina"1) ihren heute wohl bekanntesten Film,
mimte in dem in Neapel angesiedelten melodramatischen Klassiker als schöne Büglerin Assunta
eine leidenschaftlich liebende Frau zwischen zwei Männern
(Gustavo Serena/Luciano Albertini2). Das Drehbuch hatte sie selbst nach
dem gleichnamigen Bühnenstück von
Salvatore di Giacomo1)
verfasst → www.film-zeit.de.
Gerhard Midding notiert unter anderem in der "Berliner
Zeitung" (16.10.2001): "In der ersten Einstellung von
"Assunta Spina" tritt Francesca Bertini wie eine geisterhafte Erscheinung
auf, ein Geschöpf aus einer anderen Realität. (
) Die Pose, in der sie sich nun dem Publikum darbietet,
verrät ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, den
Zuschauerblick bannen zu können und selbstverständlich über die anderen Attraktionen der Leinwand zu
triumphieren: die prunkenden Dekors, die malerischen Schauplätze und die feschen Partner der
Schauspielerin. Eine "straordinaria interpretazione" kündigt der Vorspann des Films von 1915 an. Damit
war gewiss nicht nur Bertinis darstellerische Leistung gemeint, die derart stolz und zweifelsfrei
annonciert wurde. Den Zuschauern wurde zugleich das Gefühl vermittelt, ihnen würde eine
außerordentliche Gunst gewährt: Als sei ein Wesen aus einer höheren Sphäre zu ihnen herabgestiegen."
Es folgten weitere Dramen, in denen sie die tragische Heldin oder die leidenschaftliche Frau
in glamourös-opulenten Kostümen geben konnte,
etwa die "La signora delle camelie" (1915) nach "Die
Kameliendame"1) von Alexandre Dumas dem Jüngeren, die Fürstin Fédora Romanoff in "Fédora" (1916)
oder die "La Tosca" (1918) nach
den gleichnamigen Bühnestücken von Victorien Sardou. Sie gründete 1918
ihre eigene Produktionsfirma "Bertini Film", arbeitete auch
mehrfach mit Regisseur Roberto Roberti zusammen, Pseudonym des
Filmpioniers Vincenzo Leone (1879 1959) bzw. Vater des berühmten
italienischen Filmregisseurs Sergio Leone1).
Mit ihm entstanden Streifen wie "La contessa Sara" (1919), "La serpe" (1920) oder "La donna nuda" (1922).
Seit ihrer Heirat (September 1921) mit dem wohlhabenden Schweizer Bankier
Graf Paolo Cartier zog sich die auch privat als "Diva" geltende
stets elegante Schauspielerin zunehmend aus dem Filmgeschäft zurück. Bis zu seinem
Tod (oder Scheidung?) lebte sie mit ihm in der Schweiz und in Paris, danach
bis zuletzt in Rom; aus der Verbindung ging der gemeinsame Sohn Jean Benedict Cartier hervor.
Nur noch wenige Male stand sie im Tonfilm-Zeitalter vor der Kamera, so unter
anderem 1935 erneut mit der Titelrolle in dem Remake der Stummfilm-Version
von "Odette" aus dem Jahre 1928 nach dem Bühnenstück bzw.
"Pariser Sittenbild" von Victorien Sardou. Vermutlich war sie wie etliche andere Stummfilm-Stars den neuen
Schauspiel-Techniken nicht gewachsen; auch soll ihre Stimmlage einigen
Quellen zufolge nicht geeignet gewesen sein.
Danach drehte sie pro Jahrzehnt jeweils einen Film, Mitte der 1970er Jahre konnte Bernardo Bertolucci sie für
sein über fünfstündiges Geschichts-Epos "Novecento"1) (1900)
gewinnen, wo sie 1976 neben Stars wie Robert De Niro, Gérard Depardieu, Donald Sutherland oder Burt Lancaster
letztmalig auf der Leinwand mit der Rolle der Schwester Desolata in
Erscheinung trat.
Der einst gefeierte Stummfilm-Star Francesca Bertini, von Einigen als
Synthese aus Sophia Loren und Maria Callas bezeichnet, starb am 13. Oktober 1985
im Alter von 93 Jahren in Rom. Die letzte Ruhe fand sie auf dem
Zentralfriedhof "Cimitero Flaminio" im Norden Roms nahe von Prima Porta → Foto der Grabstelle bei
knerger.de.
Drei Jahre zuvor war die von Gianfranco Mingozzi für das Fernsehen gedrehte
85-minütige Dokumentation "L'ultima diva: Francesca Bertini" (1982) entstanden, in dem
die hochbetagte Schauspielerin ein letztes Interview gegeben
hatte bzw. ihr Leben Revue passieren ließ. Inzwischen ist dieser Film auf DVD (italienisch mit englischen Untertiteln) zusammen mit dem
Stummfilm-Klassiker "Assunta Spina" im Handel erhältlich. Der von dem niederländischen
Regisseur Peter Delpeut geschaffene nostalgische 70-minütige
Kompilationsfilm "Diva Dolorosa" (1999), der ebenfalls auf DVD
herausgebracht wurde, enthält neben Szenen mit Lyda Borelli2)
(1884 1959), Pina Menichelli2)
(1890 1984) und Helena Makowska2)
(1893 1964) und anderen italienischen Stummfilm-Heroinen auch
Archiv-Material von Francesca Bertini.
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