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Hans (auch Hanns) Marr erblickte am 22. Juli 1878 als Johann Julius Richter im niederschlesischen, damals
zum Deutschen Reich1) gehörenden
Breslau1) (heute: Wrocław, Polen) das Licht der Welt. Zunächst begann
er ein Studium der Kunstgeschichte, entschied sich dann jedoch
für die Schauspielerei. Nach entsprechendem Unterricht gab er 1897 am
"Königlichen Schauspielhaus"1) in Berlin sein Bühnedebüt.
Im darauffolgenden Jahr wechselte er für zwei Spielzeiten nach Görlitz1),
trat dann 1900 ein Engagement in Breslau an und kam zur
Spielzeit 1901/02 nach Graz1), wo er als Horatio in
der Shakespeare-Tragödie "Hamlet"1)
seinen Einstand gab und für zwei Jahre im Fach des jugendlichen Helden
Erfolge feierte. Ludwig Eisenberg1) (1885 1910)
schreibt in seinem 1903 publizierten Lexikon*): "Er
vertritt daselbst das Fach der Heldenliebhaber und erweist seine
Begabung namentlich in modernen Rollen. Von denselben seien als
besonders charakteristische Leistungen genannt: Barend in "Hoffnung"a),
Heffterdingk in "Heimat"b),
Rudorff in "Rosenmontag"c).
Auch seine Darbietungen in der Klassik zeigen den verläßlichen
Schauspieler, wie z. B. sein Beaumarchais in "Clavigo"1).
Marr lacht die Sonne eines reichen Talents, das sich mit einem
klangvollen Organ und einer jugendlichen Erscheinung paart. Er ist
eine ursprüngliche Natur, die nicht viel herumbosselt und auch ohne
Mache meist ins Schwarze trifft."
Anmerkung: gemeint ist
a) das Stück "Die Hoffnung" (1900, "Op hoop van
zegen") des
Niederländers Herman Heijermans1) der Jüngere (1864 1924)
b) das Schauspiel "Heimat" (1893) von Hermann Sudermann1) (1857 1928)
c) die Offizierstragödie "Rosenmontag" (1900) von Otto Erich Hartleben1) (1864 1905)
Hans Marr 1918 auf einer Künstlerkarte; Urheber: Fotoatelier
"Becker & Maass", Berlin
(Otto Becker (18491892)/Heinrich Maass (18601930))
Quelle: Wikimedia
Commons; Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
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Nach einer Verpflichtung in Köln1) (1904) wirkte Marr ab 1905 unter der
Intendanz von Otto Brahm1) am Berliner "Lessingtheater"1)
und zählte bald zu den Vertretern des aufkommenden Naturalismus. Das "Deutsche
Künstlertheater"1) in Berlin (1913) blieb ein Intermezzo, 1914 folgte er
einem Ruf Hugo Thimigs an das
Wiener "Burgtheater"1), dem er, abgesehen von der Zeit zwischen 1919 und 1924, bis zu seinem Tod
angehörte und in zahlreichen Haupt- und Nebenrollen seine
schauspielerische Kunst unter Beweis stellte. Zwischen 1919 und 1924 war
Marr an verschiedenen Berliner Bühnen sowie am "Deutschen Volkstheater"1) in Wien
tätig. Zu den Lieblingsrollen des stattlichen Mimen zählten am "Burgtheater"
die Dramen von Henrik Ibsen1),
Hermann Sudermann sowie seines
Freundes Gerhart Hauptmann1), er glänzte aber auch als
Graf von Kent in der
Shakespeare-Tragödie "König Lear"1).
Rollenbildnis Hans Marr 1916, fotografiert
von Franz Xaver Setzer1) (1886 1939)
Foto mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek1) (ÖNB)
Urheber: Franz Xaver Setzer; Datierung: 1916
Rechteinhaber/© ÖNB Wien, Bildarchiv
(Inventarnummer /Signatur Pf 4814 E2)
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Seit Anfang der 1910er Jahre engagierte sich Marr im Film und übernahm auch hier Charakterrollen.
Sein Leinwanddebüt gab er neben Henny Porten und
Harry Liedtke als
Geschäftsmann Johannes Hartwig in dem von Curt A. Stark1) inszenierten stummen Drama "Eva"1) (1913), es folgte
die Figur des smarten und betuchten Grafen Ratzikow in dem
Streifen "Statistinnen
des Lebens"1) (1913). Nach
rund vierjähriger Pause trat Marr dann für den Detektivschwank "Mir
kommt keiner aus"1) (1917)
wieder vor die Kamera, um dann ab 1919 regelmäßig Aufgaben in
Stummfilmproduktionen zu übernehmen.
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So zeigte er sich beispielsweise an
der Seite von Paul Wegener und
Asta Nielsen in dem Drama "Steuermann
Holk"1) (1920), mimte für
Fritz Lang1) die Doppelrolle der ungleichen Zwillingsbrüder Georg und John Vanderheit in der
ebenfalls dramatischen Geschichte "Das
wandernde Bild"1) (1921).
Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ Marr auch außerhalb Deutschlands mit der
Titelrolle in der freien Schiller-Adaption1) "Wilhelm Tell"1) (1923), gedreht
von Rudolf Walther-Fein1)
sowie Rudolf Dworsky1), langjähriger technischer Leiter von
Max Reinhardts1) Berliner Theaterproduktionen und -inszenierungen.
So notierte unter anderem "Variety"1) (20.05.1925): "
der
Tell-Charakter ist bezwingend in seiner Statur, noch dazu von einem
Schauspieler der ersten Garnitur." Das "Lexikon des internationalen Films"
urteilt: "Schillers Drama in einer Stummfilmversion, fertiggestellt von engen Mitarbeitern des
Theatermannes Max Reinhardt, die den Stoff mit eigenen Zutaten Gessler als Zentralfigur ŕ la Mephisto auffüllen.
Die Musik wurde neu vom Sinfonieorchester Basel eingespielt. Eine respektable Adaption von inszenatorischer und
ausstatterischer Sorgfalt, in den Hauptrollen hervorragend gespielt."
In Hervé Dumonts1) "Die Geschichte des Schweizer Films"2) heißt es:
"Von April bis Mai 1923 verursacht
die Berliner Aafa
mit ihrem
"Wilhelm Tell" einigen Aufruhr in der
Schweizer Presse.
Dabei gibt es nichts zu bemäkeln: das Thema ist von Mitarbeitern von Max Reinhardt
mit einer Sorgfalt
bearbeitet worden, die Respekt verlangt.
Tell und Gessler werden gar so überzeugend verkörpert, dass die
Schauspieler Hans Marr und Conrad Veidt dieselben Rollen im
deutsch-schweizerischen "Wilhelm Tell"1) von 1933 wieder
innehaben werden."
Urheber des Fotos: Franz Xaver Setzer1) (18861939);
Quelle: cyranos.ch;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier |
Den Übergang zum Tonfilm schaffte der sprachgewandte Theaterschauspieler
problemlos. So mimte er beispielsweise den Graf von Gülsbach in der ganz
auf Volksschauspielerin Hansi Niese in
einer Doppelrolle als Waschfrau und Fürstin zugeschnittenen
Komödie "Purpur und Waschblau" (1931, → film.at),
mit Hansi Niese spielte er auch in Friedrich Zelniks turbulenten Geschichte
"Ein süßes Geheimnis"4) (1932)
und gab deren Ehemann Professor Hugo Aichinger. In Paul Fejos'1)
bittersüßen Liebesgeschichte "Sonnenstrahl"1) (1933) zeigte er sich
als Priester, in Wilhelm Thieles1)
Filmoperette "Großfürstin Alexandra"1) (1933) mit der gefeierten
Sopranistin Maria Jeritza
in der Titelrolle als Großfürst Konstantin und in "Der Musikant von Eisenstadt"1) (1934), einem
von Alfred Deutsch-German1)
gedrehten Biopic über den Komponisten Joseph Haydn1), an der
Seite des Hauptdarstellers Kurt Lessen1)
als Fürst
Esterházy1), dessen Orchester und Oper Haydn leitete.
Seit der Welturaufführung am 12. Januar 1934 im Berliner "UFA-Palast am Zoo"1) war Hans Marr mit
der neuerlichen Gestaltung des legendären Schweizer Freiheitskämpfers
in dem von Heinz Paul1) inszenierten Film "Wilhelm Tell Das Freiheitsdrama eines Volkes"1)
wieder in aller Munde wie schon 1923 trat als Reichsvogt Gessler
Conrad Veidt in Erscheinung, den man
extra für dieses Remake nach Deutschland geholt hatte;
Veidt war 1932 seiner jüdischen Ehefrau zwecks Erfüllung eines
Filmvertrags nach London gegangen. Wiens "Neue Freie Presse"1)
notierte drei Tage nach der Wiener Premiere in ihrer Ausgabe vom 15. Juni 1934 (→ online bei ANNO1)) unter
anderem: "Unter Heinz Pauls Regie nimmt die Darstellung wie das im Dialog dürftige Buch die
Richtung zum Heroischen. Scharfe, schnittige Gesichter, auf Trotz, Haß und Sieg gestellt, unter denen
eines besonders in Güte hervorleuchtet: Hans Marr als Tell. Er verbindet, dieser warmherzige
Menschenbildner, hier das scheinbar Heterogenste, männliche Tatkraft mit kindlicher Güte."
und in der "Österreichischen Film-Zeitung" (16.06.1934) hieß es:
"Hans Marr als Wilhelm Tell und Conrad Veidt als Geßler verkörpern
mit eindringlicher Kunst die zwei überragenden Figuren des Films." → online bei
ANNO. Der Film, der im englischsprachigen Raum als "The Legend of William Tell"
und in der Schweiz als "Guillaume Tell" vermarktet wurde, geriet
trotz der für die Protagonisten positiven Kritiken zum kommerziellen
Misserfolg → siehe Besprechung zu "Wilhelm Tell" in "Filmwelt"
(Nr. 3) vom 21. Januar 1934: Seite 4
und Seite 5 sowie
einige Fotos
bei virtual-history.
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Mit dem vom "Filmlexikon"
als "sentimentaler Heimatfilm" eingestuften Geschichte "Das unsterbliche Lied"1) (1934) versuchte
sich Hans Marr einmalig als Filmregisseur und Schauspieler in
Personalunion und thematisierte die Entstehungsgeschichte des Weihnachtsliedes
"Stille Nacht, heilige Nacht"1) verknüpft mit einer dörflichen Liebesgeschichte.6)
Anschließend war Hans Marr für längere Zeit nicht auf der Leinwand
präsent, erst in dem als "Wiener Volksstück" etikettiertes Lustspiel
"Das Glück wohnt nebenan"5) (1939)
nach dem Bühnenstück von Franz Gribitz1)
ließ er sich mit der Nebenrolle Seifenfabrikanten Ferdinand Handl, Vater von Kunstmaler
Rudolf Handl (Wolf Albach-Retty), wieder blicken, um dann seine
filmische Karriere vorerst zu beenden. Lediglich in dem von Hans Thimig
nach dem Roman "Anderthalb Weidinger" von Peter Francke1) in
Szene gesetzten Melodram "Gottes Engel sind überall"1) (1948)
mit Attila Hörbiger als österreichischem Soldaten Joschi Weidinger, der in den letzten Tages des Zweiten Weltkrieges desertiert ist,
und Heiki Eis als sechsjährigem herumirrendem Jungen Florian, übernahm er noch einmal eine kleine
Aufgabe vor der Kamera → Übersicht Tonfilme.
Der zum "Kammerschauspieler" ernannte Hans Marr starb am 30. März 1949 im Alter von 70 Jahren in der österreichischen
Hauptstadt Wien; die letzte Ruhe fand er auf dem dortigen "Zentralfriedhof"1).
Hans Marr, 1927 fotografiert
von Georg Fayer (1892 1950)
Foto mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek1) (ÖNB)
Urheber: Georg Fayer; Datierung: 03.1927;
Rechteinhaber/© ÖNB Wien, Bildarchiv
Inventarnummer / Signatur Pb 580.555-F
572)
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