Der vielseitige Filmpionier Ernst Reicher er war nicht nur
Schauspieler sondern auch Regisseur, Produzent und Drehbuchautor ist heute
wie so viele seiner berühmten Kollegen aus der
Stummfilm-Ära nahezu in
Vergessenheit geraten.
|
Geboren in Berlin am 19. September 1885 als Sohn des
Schauspielers und Regisseurs Emanuel Reicher1) (1849 1924)
sowie dessen zweiten Ehefrau, der Schauspielerin Karoline Marie
Johanna Harf, besuchte
Ernst Reicher zunächst das "Landerziehungsheim Dr. Lietz" in
Ilsenburg1) (Nordharz), entschied sich dann wie sein Vater bzw. seine
Geschwister, Halbbruder Frank Reicher1) (1875 1965),
Schwester Hedwiga Reicher1)
(1884 1971) und Schwester Elly Reicher (1893 ?), für den Beruf des
Schauspielers. Zunächst ließ er sich in Berlin an der von seinem
Vater geleiteten "Reicherschen Hochschule für dramatische Kunst"
ausbilden, vertiefte dann seine Studien in Italien und London.
1909 gab er sein Bühnendebüt an den "Münchner Kammerspielen"1).
Wenig später zog es den jungen Schauspieler wieder zurück in
die Nähe seiner
Geburtsstadt, wo er 1910 in Rixdorf bei
Berlin (heute Berlin-Neukölln1)) auftrat. Nach einem Intermezzo am
"Neuen Theater"1) in Frankfurt/M (1911) kehrte Reicher
endgültig nach Berlin zurück und lernte dort den Film-Regisseur Joe May1)
(1880 1954) kennen.
Ernst Reicher vor 1929
Urheber: Alexander Binder1) (1888 1929)
Quelle: Wikipedia; Photochemie-Karte Nr. 1823;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier
|
|
|
May, der zu dieser Zeit bei "Continental-Kunstfilm GmbH"
arbeitete, machte ihn mit dem noch jungen Medium bekannt und gab
Reicher 1912 eine erste Rolle in seinem Kriegs- und
Liebesmelodram "Vorgluten des Balkanbrandes"1).
Danach drehte Reicher mit Henny Porten
als Partnerin das Melodram "Erloschenes Licht"1) (1913)
und an der Seite von Thea Sandten die
Liebeskomödie "Ein Mädchen zu verschenken"1) (1913).
Ebenfalls 1913 gelangten die Streifen "Zurückerobert"1)
und "Ein
Ausgestoßener"1) (Teil 1) in die Lichtspielhäuser, in denen Reicher
jeweils die männliche Hauptrolle mimte. Mit der Figur des Märchenkönigs Ludwig II. von Bayern1) in
dem von Carl Froelich1)
mit Giuseppe Becce1) als
Komponist Richard Wagner1)
und Olga Engl als dessen zweite Ehefrau
Cosima Wagner1) in Szene gesetzten Biopic "Richard Wagner"1) (1913)
sowie des spielsüchtigen Bankiersohns Jack Brodin in Joe Mays
Drama "Heimat
und Fremde"1) (1913), wo Reicher gemeinsam mit seinem Vater
auftrat, avancierte der Schauspieler zum Star der Stummfilm-Szene. Mit dem
kurzen Rätsel-Stummfilm "Das
Werk"1) (1913) lieferte er
seine erste Regie-Arbeit ab.
So richtig Furore machte Reicher als Detektiv Stuart Webbs in der
langlebigen "Stuart Webbs"-Reihe1): Während seines Aufenthaltes in England hatte er sich mit dem durch
"Jack the Ripper"1) bekannt gewordenen,
damals berühmt-berüchtigten Verbrecherviertel Whitechapel1) im Osten London näher
befasst und dabei einen Detektiv kennengelernt, den er sehr verehrte. So
kam ihm die Idee, einen Fall dieses Ermittlers zu verfilmen und verpasste
seinem Protagonisten
den Namen "Stuart Webbs".
Ernst Reicher vor 1929
Urheber: Alexander Binder1) (1888 1929)
Quelle: filmstarpostcards.blogspot.com; Photochemie-Karte Nr. 1822;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier |
|
|
Erstmals trat dieser smart-elegante
Typ in "Die geheimnisvolle Villa"1) (1914) mit Reicher in
der Titelrolle in Erscheinung Joe May1) führte Regie, Reicher schrieb das
Drehbuch. Die Geschichte wurde auch finanziell ein ungeheurer Erfolg,
rasch realisierte das Gespann Reicher/May weitere Abenteuer um den Shag-Pfeife
rauchenden, sportlichen Gentleman-Detektiv, der nach dem Vorbild von Sherlock Holmes1)
ebenfalls schwierigste Fälle aufklärte. Nach nur wenigen Produktionen kam es
zu einem Streit mit der "Continental-Kunstfilm GmbH" und Reicher/May gründeten
ihre eigene Produktionsfirma, die "Stuart Webbs Film
Company". Doch die Zusammenarbeit hatte nicht lange Bestand, bereits 1915 trennte sich Joe May
wegen finanzieller Differenzen von Reicher, der
nun wiederum seine Firma "Stuart Webbs-Film Company Reicher & Reicher"
gründete und in den "Lixie-Ateliers" in Berlin-Weißensee1) bzw.
ab 1. April 1919 in München erfolgreich seine "Stuart Webbs"-Serie fortsetzte. Joe May startete nicht weniger erfolgreich
seine eigene Detektiv-Serie, dessen Held nun "Joe Deebs"1)
hieß und von Max Landa
(1873 1933), später unter anderem von Harry Liedtke (1882 1945) dargestellt wurde.
Ernst Reicher auf einer Künstlerkarte
Urheber: "Stuart Webbs Films" / Fotoatelier "Zander & Labisch"
(Albert Zander und Siegmund Labisch1) (18631942))
Quelle: filmstarpostcards.blogspot.com; Photochemie-Karte Nr. 3076;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier
|
|
|
Ernst Reicher realisierte bis Mitte der 1920er Jahre meist von Regisseur Max Obal1) (1881 1949)
mitunter auch von ihm selbst inszenierte, unzählige "Stuart Webbs"-Streifen es mögen wohl an die sechzig gewesen
sein , die beim Publikum trotz des eher gemächlichen Erzählstils wegen
auch der komplexen Handlungsstränge ungeheuer beliebt waren. Der
vornehm-ritterliche, stets siegreiche Detektiv konnte alles und meisterte
jede Situation im Kampf um das Verbrechertum grandios, wobei er auch schon mal
seinen Erfindungsgeist einsetzte wie drehbare Türen oder Instrumente, mit
denen er seine Gegner belauschte. So notierte unter
anderem DER SPIEGEL (39/1950): "Aber Webbs
blieb sich gleich: Ein stupid aussehender, glatt rasierter Kerl, der eine energische Sportkappe trug,
unglaubliche Kräfte besaß und stets Herr der Situation blieb, ob er nun von hoher Brücke in einen Fluß sprang oder
von entmenschten Verbrechern in eine Wurstmaschine geworfen wurde. Webbs entdeckte alle Morde, Diebstähle und
Ehebrüche. Er durchlebte Hetzjagden durch Wasser und Luft, durch Lasterhöhlen und Panzergewölbe, durch Kanäle und
Boudoirs mondäner Dirnen, schoß, focht, boxte, hypnotisierte und siegte."
Der letzte "Stuart Webbs"-Film mit Reicher hieß, wie der
Kassenschlager bzw. die Erstverfilmung1) 1914), "Das
Panzergewölbe"1) (1926),
gedreht von Lupu Pick
unter anderem mit Heinrich George
→ Übersicht "Stuart Webbs"-Filme
Ernst Reicher vor 1929
Urheber: Alexander
Binder1) (1888 1929)
Quelle: www.cyranos.ch;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier |
Doch Reicher war nicht nur "Stuart Webbs", im März 1919
gelangte der von ihm
aufwendig produzierte und gemeinsam mit Uwe Jens Krafft1) in Szene gesetzte, altbiblische Monumentalfilm
"Das Buch Esther"1) in die Lichtspielhäuser, in dem er mit
der Hauptrolle des König Ahasver1) an der Seite seiner
damaligen Ehefrau Stella Harf1)
als Königin Esther1)
einmal mehr die Kinokassen klingeln ließ. Anfang der 1920er Jahre musste
Reicher wegen eines schweren Autounfalls längere Zeit pausieren und einen
schweren Wirbel- sowie Schädelbruch auskurieren, konnte erst 1923/24
seine Tätigkeit als Schauspieler wieder aufnehmen.
Als Polizeikommissar Bickerson erregte Reicher in dem ersten, noch
stummen EdgarWallace1)-Krimi "Der
große Unbekannte"1)
zwar noch einmal die Aufmerksamkeit des Publikums, rückte nun jedoch
vermehrt in
die zweite Reihe. Auch in seinen letzten Stummfilmen war er auf Krimis
bzw. den Typus des Ermittlers festgelegt, so
als Chef der Genfer Polizei in "Das Geheimnis von Genf"1) (1927)
mit
Christa Tordy
und
Alfred Abel
in den Hauptrollen, als Kommissar Grant in der ganz auf
Eddie Polo
zugeschnittenen Story "Hände
hoch! Hier Eddy Polo"2) (1928) und
als Polizeikommissar in "Vertauschte Gesichter" (1929),
gedreht von Rolf Randolf1) nach einer Vorlage von Paul Rosenhayn1) unter anderem
mit Marcella Albani
und Theodor Loos.
Lediglich in dem Krimi bzw. der Adaption "Haus Nummer 17"1) (1928) nach
dem Bühnenstück "Number 17" von Joseph Jefferson Farjeon (1883 1955)
stand er auf der Seite der Bösewichte und tauchte als Harold Brant auf, Komplize des von Fritz Greiner dargestellten
Einbrecherkönigs Shelldrake → Übersicht Stummfilme.
Ernst Reicher auf einer Künstlerkarte (Film Sterne-Serie Nr. 176/1),
aufgenommen im Fotoatelier "Becker & Maass", Berlin
(Otto Becker (18491892)/Heinrich Maass (18601930))
Quelle: filmstarpostcards.blogspot.com;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier
|
|
|
Mit dem beginnenden Tonfilm ging die Karriere des inzwischen in die
Jahre gekommenen "Königs der deutschen Stummfilm-Detektive"
seinem Ende entgegen und der erfolgsverwöhnte Künstler musste sich mit
Nebenrollen zufrieden geben. Unter anderem trat er in der frühen
Verfilmung "Der
Zinker"1) (1931) nach
dem gleichnamigen
Roman1) ("The Squeaker")
von Edgar
Wallace1) als "Scotland
Yard"-Inspektor Elford in Erscheinung. Letztmalig erlebte man Reicher
in einer deutschen Produktion als Innenminister in dem mit Conrad Veidt
als russischem "Wunderheiler" Rasputin1)
realisierten Historien-Drama "Rasputin"1) (1932).
Nach der so genannten "Machtergreifung"1)
der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 war die künstlerische
Laufbahn des Ernst Reicher endgültig vorbei, als Angehörigen des
jüdischen Volkes musste er mit der Verfolgung durch die Nazi-Schergen
rechnen. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei1)
bzw. nach Prag1)
(heute: Tschechien1)),
fand dort kaum noch Arbeit und hielt sich mehr schlecht als recht über
Wasser. Lediglich in der österreichisch-tschechoslowakischen Komödie
"Csardas"1) (1935)
erhielt er neben Hauptdarsteller Max Hansen
noch einmal einen winzigen Part, ebenso wie in der von Julien Duvivier1)
in der Tschechoslowakei gedrehten
"Golem"-Neuverfilmung "Le golem"3) (1936)
mit Ferdinand Hart1)
als der Golem1)
und Harry Baur1)
als Kaiser Rudolph II.1) –
die Szene mit Reicher fiel jedoch dem Schnitt zum Opfer → Übersicht Tonfilme.
Ernst Reicher auf einer Künstlerkarte (Film Sterne-Serie Nr. 1762),
aufgenommen im Fotoatelier "Becker & Maass", Berlin
(Otto Becker (18491892)/Heinrich Maass (18601930))
Quelle: filmstarpostcards.blogspot.com;
Angaben zur Lizenz (gemeinfrei)
siehe hier |
Der einst gefeierte Leinwand-Beau Ernst Reicher starb am 1. Mai 1936
vollkommen verarmt und vergessen mit nur 50 Jahren in Prag1).
Er war von 1916 bis 1923 mit der Schauspielerin Stella Harf1)
(1890 1979; eigentlich Johanna Gertrud Weybrecht) verheiratet, die mehrfach mit
Hauptrollen in seinen Filmen auftrat bzw. gemeinsam mit Reicher auf der
Leinwand erschien. 1924 ehelichte er die Sängerin und
Schauspielerin Alexa Engström4) (1899 1984), auch diese
Verbindung endete 1927 mit der Scheidung.
Ehefrau Nummer 3 wurde 1930 Susanne Fehl.5)
|
Fremde Links: 1) Wikipedia, 2 filmportal.de, 3) berlinale.de, 4) cyranos.ch
Quelle 5) Wikipedia mit Einzelnachweisen
Lizenz Foto Ernst Reicher (Urheber: Alexander
Binder/Fotoatelier Becker & Maass, Berlin (Otto Becker
(18491892) / Heinrich Maass (18601930)): Die Schutzdauer (von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers) für
das von dieser Datei gezeigte Werk ist nach den Maßstäben des deutschen,
des österreichischen/des schweizerischen Urheberrechts abgelaufen. Es
ist daher gemeinfrei.
Lizenz Foto Ernst Reicher (Urheber
"Fotoatelier Zander & Labisch", Berlin): Das Atelier
von Albert Zander und Siegmund
Labisch (18631942) war 1895 gegründet worden; die inaktive
Firma wurde 1939 aus dem Handelsregister gelöscht. Externe Recherche
ergab: Labisch wird ab 1938 nicht mehr in den amtlichen
Einwohnerverzeichnissen aufgeführt, so dass sein Tod angenommen werden
muss; Zander wiederum war laut Aktenlage ab 1899 nicht mehr aktiv am
Atelier beteiligt und kommt somit nicht als Urheber dieses Fotos in Frage.
Die Schutzdauer (von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers) für das von
dieser Datei gezeigte Werk ist nach den Maßstäben des deutschen, des
österreichischen und des schweizerischen Urheberrechts abgelaufen. Es ist
daher gemeinfrei.
(Quelle: Wikipedia)
|